9   Medizinrobotik
Bis etwa 2010 konzentrierten sich die medizintechnischen Arbeiten am FMT auf die Entwicklung neuer Endoskope für die minimal-invasive Chirurgie: neue Videokameras in der Endoskopspitze. Die Monitorbilder ermöglichen eine vorläufige Diagnostik kranker Areale sowie auch die visuelle Kontrolle bei Eingriffen. Hierbei ist eine gute Bildschärfe nötig, oft auch die Vergrößerung eines bestimmten Bildausschnitts.
Dies war mit der bisher genutzten starren Optik nicht möglich, so dass wir elektromagnetische Aktoren entwickelten, mit denen sich einzelne optische Linsen oder auch Baugruppen schnell bewegen lassen, wodurch in einem Regelkreis die Scharfeinstellung sowie auch die Vergrößerung des Bilds gelingt (Autofokus). Parallel hierzu entwickelten wir neue Beleuchtungstechniken, welche eine bessere Bildausleuchtung erlauben.
Bei einem minimal-invasiven Eingriff halten Assistenten das Endoskop. Sie stehen nahe bei dem Operateur und ändern nach Anordnung des Chirurgen die Endoskopstellung. Dies schränkt die Bewegungsfreiheit des Arztes stark ein, so dass wir einen beweglichen Manipulatorarm zur Endoskophalterung und -führung entwickelten, der an der Decke des Operationsraums befestigt ist. Der Operateur steuert das damit frei bewegliche Endoskop ohne Behinderung durch Eye-tracking oder auch Sprachkontrolle.
Bei minimal-invasiven Multi-Port-Eingriffen kommen mindestens zwei chirurgische Instrumente und ein Endoskop zum Einsatz. Der Chirurg schafft mittels eines Trokars mit umhüllendem Tubus mehrere abdominale Zugänge. Nach Entfernung des Trokars verbleiben die Tubi in der Bauchdecke. Anschließend führt der Arzt durch die Tubi lange Instrumentenschäfte, an deren Spitze sich Zangen, Scheren oder andere Werkzeuge (Endeffektoren) befinden, in den Bauchraum ein. Durch Kippen der Metallrohre um den Eintrittspunkt bewegt er je einen Instrumentenschaft in der Tiefe des Abdominalraums (Triangulation). Eine Minikamera, das Endoskop, ermöglicht dabei die Sichtkontrolle der Aktionen. Mit absolut starren Instrumenten erzielt der Arzt im Bauchraum jedoch wenig Bewegungsfreiheit. Eine Verbesserung lässt sich beispielsweise durch Abknicken der Instrumentenspitze und deren Rotation erreichen. Allerdings reichen bei der manuellen Betätigung solcher Instrumente die Finger einer Hand sowie deren Kraft oft nicht mehr aus, da an jedem Gelenk Reibung auftritt. Somit gestaltet sich die übliche Instrumentenbedienung mit den Fingern äußerst schwierig und die Finger verkrampfen.
Single-Port-Telemanipulator für die minimal-invasive Chirurgie
In Zusammenarbeit mit einem Berliner Industriepartner planten wir daher die Entwicklung neuer OP-Hilfen, bei denen Aktoren die Instrumente bewegen. Dies führt jedoch zu unhandlichen und schweren Apparaturen, wodurch sich die Instrumente nicht mehr manuell nutzen lassen. so dass die Idee zur Entwicklung eines ferngesteuerten Manipulators reifte.
Telemanipulatoren erleichtern die chirurgische Tätigkeit. Der Arzt sitzt an einer Eingabekonsole und steuert die Instrumentenbewegung bei visueller Kontrolle des Operationsfelds. Marktführer ist der Da-Vinci-Roboter, der jeweils einen starren Instrumentenarm betätigt und den Arzt ersetzt, so dass bei Multi-Port-Eingriffen mehrere dieser Systeme am OP-Tisch eingesetzt werden, was zu einem sperrigen Aufbau führt und den direkten Kontakt zum Patienten erschwert. Schließlich behindern auch hohe Beschaffungs- und Wartungskosten den flächendeckenden Einsatz dieser Geräte.


Schematischer Aufbau des Single-Port-Manipulators
Im Planungszeitraum geriet die bei minimal-invasiven Eingriffen übliche Multi-Port-OP-Technik aufgrund der vielfältigen Schnittverletzungen der Bauchdecke in die Kritik, Dagegen lässt die Single-Port-OP-Technik nur einen Schnitt zu, um die Anzahl der Läsionen und späteren Narben zu minimieren. Die Instrumente werden durch diesen engen Zugang in den Bauchraum eingeführt und entfalten sich dort für den chirurgischen Eingriff. Starre Schäfte sind hierbei nicht sinnvoll, da wegen des Einzelzugangs keine Triangulation möglich ist. Versieht man dagegen die Rohre in der Weise mit beweglichen Gelenken, dass sie sich wie menschliche Arme im Bauchraum bewegen, so kann der Arzt die Instrumente wie bei offenen OPs in gewohnter Weise intuitiv benutzen (siehe schematische Funktionsübersicht  oben).
Zur Entwicklung eines völlig neuen telemanipulativen Single-Port-Systems für minimal-invasive Eingriffe reichten wir daher mit einer Berliner Medizintechnikfirma bei der Investitionsbank Berlin (IBB) einen Projektvorschlag ein, der als EFRE-Förderprojekt „Aktive chirurgische Instrumente für minimal-invasive Eingriffe“, Kurzform AKIM, genehmigt wurde.
In zwei Jahren Entwicklungsarbeit entstand ein voll funktionsfähiger Single-Port-Telemanipulator, dessen zwei Instrumentenarmen sich von einer Konsole als Mensch-Maschine-Schnittstelle (MMI) bedienen lassen. Dabei steuert der Arzt mit zwei Steuerknüppeln die Position und Winkel der Endeffektoren an der Spitze der Arme. Da hierzu die Bewegung mehrerer Armgelenke erforderlich ist, berechnet die AKIM-Control-Unit die Stellwinkel der Elektromotoren für die Armgelenke.
Wegen des kleinen Durchmessers der Instrumentenarme ist es jedoch nicht möglich, ausreichend kräftige Motoren zur Bewegung der Gelenke und der Instrumente in die Arme einzufügen, so dass sie sich außerhalb des menschlichen Körpers in einer Plattform befinden. Daher gelangt die Bewegungsenergie für die Betätigung der Armgelenke und der Instrumente mit flexiblen Wellen an die Wirkstellen.
Das Bild unten zeigt den Laboraufbau des am FMT entwickelten Single-Port-Telemanipulators, bei dessen OP-Einsatz zwei frei bewegliche Gelenkarme in gestrecktem Zustand durch einen Tubus in den Bauchraum des Patienten einführt werden. Der OP-Roboter lässt sich ohne Kraftaufwand an der Benutzerkonsole bedienen und beispielsweise an dem oben erwähnten Manipulatorarm befestigen, wobei ihn der Arzt direkt am Patienten einsetzt oder ihn sitzend an der Konsole steuert.


Laboraufbau des Single-Port-Telemanipulator-Systems
links: Motorplattform und Gelenkarme
rechts: Benutzerkonsole mit zwei Handgriffen zur Steuerung der Gelenkarme
Die Arme des Manipulators sind durch Gelenke in einzelne Segmente aufgeteilt. An deren Spitze befinden sich auswechselbare Werkzeuge (Effektoren) zum wahlweisen Greifen, Schneiden oder Koagulieren des Gewebes. Die Gelenkarme führen wie menschliche Arme Knickbewegungen aus, so dass sich der Arbeitsablauf für den Operateur wie bei einem offenen Eingriff gestaltet. Die Motoren mit den Getrieben und der Ansteuerelektronik (in der Plattform, Bild unten) bilden eine mechatronische Antriebseinheit, welche die vom Operateur an der Eingabekonsole erzeugten Signale in konkrete Aktionen der Arme und Endeffektoren umsetzt. Beide Arme lassen sich unabhängig voneinander heben und senken, um ihre eigene Achse drehen sowie abknicken.


Innenansicht der Motorplattform mit den Getriebemotoren
zur Bewegung der einzelnen Freiheitsgrade
Durch die Hohlsegmente der Arme verlaufen, ausgehend von der Plattform, flexible Drehwellen, welche die Knickbewegungen der Armsegmente sowie die Manipulationen der Endeffektoren aktuieren. Dank eines innovativen Optimierungsalgorithmus zur Auslegung der Armsegmente erreicht der Arzt mit der Einheit einen bei Single-Port-Systemen weltweit unerreicht großen Bewegungsbereich.


Betrieb des AKIM-Systems,
der Wandmonitor zeigt die Greiferenden der beiden Gelenkarme
Das große Leistungsspektrum des äußerst kompakten Single-Port-Systems wird durch eine Reihe von optischen Kollisions- und elektromagnetischen Positionssensoren zur Sicherheitsüberwachung der Aktionen im menschlichen Körper ergänzt. Insgesamt gelang es uns bei der Entwicklung und dem Aufbau des Telemanipulators viele Ideen durch Patente zu schützen.


Medizinroboterteam mit dem AKIM-System
Multi-Port-Telemanipulator
Klinische Studien kamen während der Beantragung von AKIM zu dem Schluss, dass durch den Singleport-Zugang weniger Traumata entstehen und ein besseres ästhetisches Ergebnis resultiert, da die Narbe im Bauchnabel praktisch unsichtbar ist. Allerdings änderte sich während der Entwicklung von AKIM die Meinung: bezüglich der Wundheilung sah man keinen Vorteil, da der Durchmesser des Single-Ports viel größer ist als der eines Standard-Trokars. Weiterhin zeigte es sich, dass man minimal-invasive Multi-Port-OPs schneller, einfacher und kostengünstiger durchführen kann.
Die Chirurgen forderten ein System, welches dem vorher gewählten Ansatz zur Motorisierung der Arme entspricht, aber Multi-Port-tauglich und sehr klein sein sollte. Dadurch lassen sich die Arme flexibler platzieren. In Kooperation mit unserem Berliner Industriepartner beantragten wir das EFRE-Förderprojekt „Aktive Multiport-Instrumente für minimal-invasive Eingriffe“, Kurzform AMIE, das ebenfalls durch die IBB unterstützt wurde.
Bei minimal-invasiven Multi-Port-Eingriffen kommen mindestens zwei chirurgische Instrumente und ein Endoskop zum Einsatz. Der Chirurg schafft mittels eines Trokars mehrere abdominale Zugänge, wobei nach Entfernung des Trokars mehrere Tuben in der Bauchdecke verbleiben. Anschließend führt der Arzt durch die Tuben lange dünne Metallrohre, an deren Spitze sich Zangen, Scheren oder andere Werkzeuge befinden, in den Bauchraum ein. Durch Kippen der Metallrohre um den Eintrittspunkt bewegt er je einen Instrumentenschaft in der Tiefe des Abdominalraums. Jeder Schaft mit Instrument wird von einem Telemanipulator bewegt. Dabei ersetzen die robotischen Manipulatoren den Arzt direkt am Patienten. Eine Minikamera, das Endoskop, ermöglicht die Sichtkontrolle der Aktionen.
Die beiden Bilder unten zeigen schematische Ansichten des vom AMIE-Projektteam entwickelten Telemanipulators, der aus zwei wesentlichen Funktionseinheiten besteht: der Positionier- und Schwenkeinheit, einem Scherengetriebe, das an einem Ende des OP-Tischs befestigt wird sowie aus der zweiten Funktionseinheit am oberen Ende, dem Instrumentenmodul, dessen Instrumentenschaft sich durch Auslegen des Scherengetriebes über einem Trokar positionieren und in das Abdomen einführen lässt.

Schematische Ansichten des AMIE-Telemanipulators
Um einen größeren Raumbereich zu erreichen, beschreibt der Schaft mit einem Endeffektor an der Spitze durch die Kombination von Kipp- und Schwenkbewegungen Kegelfiguren im Raum, deren Spitze sich am Trokarpunkt befindet (Bild unten). Will man bei chirurgischen Eingriffen eine mit konventionellen Operationen vergleichbare Fertigkeit erreichen, muss der Endeffektor Dreh- und Knickbewegungen ausführen, damit beispielsweise das Greifen oder Schneiden von Gewebe mit der richtigen Instrumentenstellung erfolgt.
Die Ansteuerung des AMIE-Manipulators erfolgt mit der gleichen Eingabekonsole wie bei dem  AKIM-Projekt. Der Steuerknüppel wurde zusätzlich mit einem Schließgriff versehen, um die Schneid- und Greifbewegungen des Endeffektors zu initiieren. Durch Rückmeldung der Greif- oder Schneidekraft an den Aktuator dieses Griffs erhält der Arzt haptische Signale, die ihm Aufschluss über den Widerstand des Gewebes vermitteln.


Agitationsraum des Schafts bei Kipp- und Schwenkbewegungen des Manipulators
Aufgrund der kurzen Bewilligungsdauer des Vorhabens von nur 18 Monaten vereinbarten die beiden Projektteams eine eigenverantwortliche Entwicklung der jeweiligen Funktionseinheiten. Die Firmenmitarbeiter konzentrierten sich auf das Schwenkmodul, während das FMT-Team das Instrumentenmodul sowie bewegliche Endeffektoren entwickelte. Bei der Auslegung des Gesamtsystems sowie dem Aufbau der Ansteuerelektronik und -software arbeiteten beide Gruppen eng zusammen.


Laboraufbau des Telemanipulators, Geschicklichkeitsübungen
Der Laboraufbau des Telemanipulators (Bild oben) bewährte sich bei den Untersuchungen im Drylab des FMT. Eine Reihe von Testpersonen absolvierte mehrere Geschicklichkeitsparcours. Dazu zählten Einfädelübungen von Drähten in Ringen, die montagegerechte Aufnahme einzelner Bauteile und deren Aufbau zu komplexeren Gebilden sowie weitere Manipulationsübungen. Die Probanden bedienten den Steuerknüppel an der Konsole nach wenigen Versuchen problemlos und intuitiv, wobei sich infolge der hohen Dynamik des Systems sowie der sehr exakten Führung der Endeffektoren auch feinste Sortier-, Einfüge- und Platziermanipulationen höchst präzise durchführen ließen.
Insgesamt ist festzuhalten, dass es durch diese Forschungsarbeiten gelang, einen Telemanipulator zu entwickeln, der Schwachpunkte bereits existierender Systeme durch neue Gestaltungsansätze überwindet. Somit liefert dieser neu entwickelte Telemanipulator die Basis für kostengünstige und intelligente Robotiksysteme der minimal-invasiven Chirurgie.


Dr.-Ing. Simon Albrecht demonstriert nach seiner wissenschaftlichen Aussprache
sämtliche Funktionen des Telemanipulators
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